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Lange Kunstnacht - 17.9.2022

Vom Wert der Kunst

Kurzfassung für Eilige. Das Thema knüpfte an die Erfahrungen der verflossenen Monate an: Kunst und Kultur wurden von der Politik als „nicht systemrelevant“ eingestuft und deshalb lange stiefmütterlich behandelt. „Vom Wert der Kunst“ sprach offenbar zahlreiche Menschen an, so dass sich in der ersten postpandemischen Langen Kunstnacht viele im Café FilmBühne zum Kunst-Leseabend einfanden.

Um 19 Uhr begrüßte Monika Sadegor, die Leiterin des Landsberger Autorenkreises, die ersten Gäste und im Halbstunden- oder Stundentakt lasen die Autoren ihre Gedichte und Geschichten. Thomas Glatz hatte tiefsinnige und komische Sprachbilder aus der eigenen Feder und von seinem Vater Helmut Glatz dabei, Monika Sadegor las vom Kulturschatz des Passauer Stadtbildes und seiner schützenswerten Entsprechung in Landsberg, Marianne Porsche-Rohrers Gedichte zeugten von Pater Kneipps Einordnung der Kunst zur „inneren Ordnung“ als wesentliche Säule der Gesundheit. Klaus Wuchner spannungsgeladene Erlebniskunst-Geschichte trug Barbara Koopmann vor.

Lore Kienzl bot eine Innenschau auf die Motivation des Malenden und die Rezeption seiner Werke durch die Betrachtenden, Rudi Fichtl gab auf kreative Weise Einblicke in seine sprachlich ausgefeilte satirische Lyrik. Roland Greißl las von der Stolperkunst der Straßenmaler und der Körperkunst der Schöpfung, Benno von Rechenberg entführte in die multidimensionale Welt von Leser, Autor, Romancharakteren und deren Schutzgottheit. Carmen Kraus breitete einen lyrisch verwobenen Teppich unterschiedlichster Perspektiven auf die Kunst aus, Dr. Boris Schneider ließ in seiner Kunsterlebnis-Geschichte kurzzeitig Beuys 2.0 aufleben und Sandro Wirth malte mit Worten Bilder von Krieg und Mut zum Frieden in der eigenen Gedankenwelt. Den Schlusspunkt setzte Barbara Koopmanns Vortrag einer literarischen Rezension von Autorenkreisgründer Helmut Glatz.

Vom Wert der Kunst

Langfassung für Genießer. Das Café FilmBühne liegt „in zweiter Reihe“, nicht direkt am Hauptplatz, in Vorder- oder Hinteranger oder in der Bergstraße, wo erfahrungsgemäß das künstlerische Treiben in einer Langen Kunstnacht seinen Höhepunkt erreicht. Doch aus früheren Lesungen, auch in diesen prominenten Zonen, wussten wir, dass Zuhörer uns gerade deswegen gern besuchten: um die Augen vom Grellen abzuwenden, auszuspannen vom Überbordenden, die Sinne zu laben mit leisen Tönen und sanften Worten.

Das Thema „Vom Wert der Kunst“ knüpfte an die Erfahrungen der verflossenen Monate an, als Kunst und Kultur von der Politik als „nicht systemrelevant“ eingestuft und deshalb lange stiefmütterlich behandelt wurden. Lag es daran, dass Burnouts und Depressionen zunahmen? Fehlte den Menschen das Ventil, das den Überdruck der Sorgen ablässt? Fehlte ihnen die Beschäftigung mit dem Schönen angesichts des vielen Nötigen? Unsere Autoren boten selten Antworten; zu sehr engen sie ein. Aber Denkanstöße, sich mit den Fragen rund um den Wert der Kunst zu beschäftigen, die wollten wir bieten. Und mehr Menschen, als wir je erwartet hätten, fanden an diesem regenverhangenen Abend den Weg in die kleine warme Stube der Frau Gilk neben dem Olympia-Kino. Einige mussten sogar weiterziehen – und später wiederkommen.

Um 19 Uhr begrüßte Monika Sadegor, die Leiterin des Landsberger Autorenkreises, schon eine ansehnliche Schar. Die Autoren hatten sich für ihre Lesungen im Halbstunden- oder Stundentakt angemeldet und gingen außerhalb dieser Zeiten selbst in das bunte Treiben hinaus. Man wird an den nächsten Leseabenden erfahren, wie sich die dort aufgenommene Inspiration auf ihr Schaffen ausgewirkt hat.

Was sie mitgebracht haben, war eine breite Palette, die Thomas Glatz eröffnete: „Am Anfang war das Wort“ – wo sonst sollte man beginnen? –, „… aber mit Angst vor dem weißen Blatt.“ Angelehnt an Ringelnatz’ Bumerang folgten komische Metaphern, Bilder, die im Gedächtnis bleiben wie jenes vom lausig gezeichneten Kleiderständer. Sprachbilder, auch aus dem soeben postum erschienenen Buch seines Vaters Helmut Glatz, „Komboloi (2) – Waldportier und Distelblüte“, die etwa durch die Rezeption der Werke von Beuys entstanden waren, denn Fettstuhl, Filzpiano und Honigpumpe unterhalten sich mit ihrem Betrachter.

Die Passauerin Monika Sadegor bot einen nächtlichen Spaziergang durch die Kunst in ihrer Heimatstadt: die Fußgängerbrücke über den Inn, die schwarzen Ilz, die „Flussperlen verschenkt“, die barocken Details am Dom, der Fünferlsteg. Sie wecken Erinnerungen an Venedig und den Markusplatz und beim Ave Maria auf den Beterstufen denkt sie nicht nur an die ferne Spanische Treppe, sondern gleichsam an das Juwel des Landsberger Stadtbildes, das es zu schätzen und zu schützen gilt.

Kunst ist bei Marianne Porsche-Rohrer in sämtlichen Büchern ihrer gereimten Gesundheitsreihe präsent. Deren Anblick, aber auch die Beschäftigung mit einem schönen Hobby steigert die Lebensfreude und führt damit zu seelischer Gesundheit, wie bei Walter im Rentenalter aus „Der Kopf bleibt fit und ich mach mit“ oder dem Malen nach Zahlen bis „die Kunst schier explodierte“, samt der Feststellung „Museum macht mutig“. Auf Pater Kneipp wies sie hin, der die „innere Ordnung“ als eine der tragenden Gesundheitssäulen aufstellte, weshalb die Kneipp-Kurstadt Bad Wörishofen allabendlich Kultur anbietet und sie selbst das muntere Gedicht „Kunst statt Pillen“. Von Paul Klees Erfahrungen ermutigt, schreibt sie auf dieselbe Weise wie er malte, denn „erst hat man über ihn gelacht“, dann „hat er Spitzenpreise“.

Klaus Wuchners Kurzgeschichte „Erlebnis Kunst“ ist bereits in der dritten Anthologie des Autorenkreises erschienen, die der Kunst ein ganzes Kapitel widmet. Barbara Koopmann las sie für ihn vor und breitete lustvoll und spannend das Eintreffen des Ausnahmekünstlers vor den Zuhörern aus, der eine ganz neue Stilrichtung in der Kunst eröffnet hatte. Ausstellungen in London und Paris rissen sich um seine Werke. Nun endlich sollte die Welt ihn kennenlernen, sogar bei einer Teilhabe an einer Session dieses Schöpfers der „Ungeradigkeit, eingebettet in Farbigkeit“. Man hatte nicht zu viel versprochen: Die Welt hielt den Atem an und … die Überraschung gelang!

„Was soll das sein?“, ließ Lore Kienzl, selbst Autorin und bildende Künstlerin, den Betrachter fragen. „Sie diskutieren hin und her. Mit Kunst ist’s manchmal richtig schwer.“ Um dann einen typischen Tag eines Malers aufzurollen: die Augen frei und voller Hingabe, aber auch seinen Zorn, seine Wildheit, seine Zweifel bis zu Sehnsucht und bodenloser Einsamkeit. Doch die Gesellschaft schmückte sich dann mit seinem Genie. Bei der Frage nach dem „Sinn des Lebens“ ließ er Schmeichler und Kritiker links liegen und rief dazu auf, das Leben neu, mit unverdorbenen Augen zu sehen mit all seiner Dramatik der geistigen und seelischen Welt. In „Crescendo“ kam der Weckruf der Götter an und sie schloss ihre Lesung mit einem „Schlussakkord in feinem Moll“.

Endlich hat Rudolf Anton Fichtl sein erstes Buch herausgegeben. Nicht nur die Fans von „Mistcapala“ haben jahrelang auf die Nachlese seiner satirischen Lyrik gewartet. Aus „Das Kribbeln beim Bestatten dicker Dänen“ trug er manches Wortgeschwurbel vor, wie das Matrosen-Neurosen-Gedicht, den Chor von Posaunen in schillernden Sphären und die Jugendliebe auf 30-Zoll-Schlappen, neben denen der Spoiler die Straße küsst. Vom Wert der Kunst, von Gerd verhunzt, war eine aktuelle Beigabe des Autors, der noch immer vom Abdruck seines „Abserviert“ in der taz schwärmte. „Bei anderen rollt der Rubel“, stellt nicht nur der brave Jazzer fest, sondern auch der, der das „Dosenpfand mit Anschnallpflicht“ erfunden hat. Doch spätestens bei den „Abschiedsbriefen“ ist den Zuhörenden klar, warum Fichtl eine 2. Auflage braucht.

„Kunst macht Arbeit, aber ist schön“, zu dieser Feststellung von Karl Valentin kam schließlich auch Roland Greißl in seiner „Stolperkunst“. Lettern aus Bronze, die dem Auge in 3D entgegenkommen und einen innerlich stolpern lassen, Abgründe, die einen straucheln lassen, weil man befürchtet, ins Bodenlose zu stürzen, sind nur zwei Beispiele jener Kunstwerke, die Straßenmaler fähig sind zu schaffen. Illusionen für ein paar Stunden, denn der nächste Regen spült sie unwiederbringlich weg. Dagegen steht das Werk einer japanischen Künstlerin, die ihre Gemälde zwar in sieben Schichten aufbaut, den Betrachter aber nur wenig davon sehen lässt, Grau und zwei Schichten als Kontrast. Oder eine ganze Große Fläche Blau, nichts als Blau – Veilchenblau, Bayerischblau? Das ist Kunst, die Betrachtende auffordert, selbst kreativ zu werden, das zu imaginieren, was darunter sein könnte. Wertvolles, das sie nicht voyeuristisch den Blicken anderer preisgeben würden. Das ist Kunst, die einem noch lange Arbeit macht.

Benno von Rechenberg durchquert in seinen Texten viele Schichten; niemals bewegt er sich nur in einer Ebene. Am Ende weiß man nicht, war es Traum oder Wirklichkeit, die sich in mehreren Dimensionen offenbart. So auch die Geschichte von Moritz im Moos, dem die Schutzgottheit Ramon’a begegnet. Sie wacht über die Rechte von Figuren in Geschichten bereits im wegbereitenden Schreiben. Denn dieses ist wie das Schneiden von Blumen und das Binden zu einem Strauß, der überdauern soll. Manche werden zu wunderbaren Trockenblumen, andere schlagen in der Vase nochmal aus und ihre unbändige Kraft verändert den Menschen. Wir können getrost sein: Ramon’a bewahrt die Menschheit vor schlechten Einflüssen durch Romanfiguren. Doch sollten wir beherzigen: „Wach wirst du nur, wenn du träumst.“

Nochmal las Roland Greißl, der in „Symphonie Nr. 7“ das „Kunstwerk Körper“ aufrollte. Will man von seinem Arzt hören „Wunderbar, Sie sind der klassische Patient!“? Und wie kommt eine Lobeshymne auf ein Meniskusleiden zustande? „Zwei mal sieben und neun mal sieben, so steht es geschrieben.“ Wie bitte? Der Mensch erneuert sich alle sieben Jahre komplett, und ist man also 63 Jahre alt, hat man sich neunmal erneuert. Vor 2 x 7 Jahren trat dasselbe Leiden erstmals auf, es ist also kein Wunder, dass der Körper sich gerade jetzt, bei Beginn des neuen Zyklus, daran erinnert. Eine Einladung sei damit ausgesprochen, auf den eigenen Körper zu hören, denn spätestens seit Behrendt wissen wir „Die Welt ist Klang“ und jede unserer Zellen schwingt. Sensitive Menschen, die „das Gras wachsen hören“, leben schon in enger Verbundenheit von Seele und Körper – doch jeder kann sich darauf einlassen und selbst diese Harmonie erfahren.

Die folgende Lesestunde bestritten drei Autoren im Wechsel. „Magie der Literatur – die Kunst, Wörter im Kopf in Bilder zu verwandeln“, hat Helmut Glaßl mal gesagt. In diesem Sinne aufgefordert, spürten die drei den Fragen nach: Wie entsteht Kunst? Wie erlebt sie der Betrachter? Was macht Kunst mit dem Poeten? Kann Poesie Inspiration sein für Künstler? Malen wir mit Worten? Was gibt die Kunst uns mit? Carmen Kraus ließ in „Künstler und Werk“ ein Stakkato von Stichworten den Schaffensprozess begleiten, spürte in „Kunstrausch“ der Begeisterung im Kreativsein nach, setzte die einzelnen Bestandteile mit dem Katalysator Muse zum „Kunstwerk“ zusammen und bot sie den Betrachtenden als eigenes „Erlebnis Kunst“ an, sofern sie dafür offen sind. Parallelen dazu stehen der Schreibdrang der Autoren, ihr Verdichten von Worten zu Lyrik, vergleichbar dem Skizzieren des Zeichners, der Austausch im Autorenkreis und die Lesungen als „Ausstellungshalle“ und das Schreiben als Befreiung oder Befruchtung des Denkens anderer.

Dazwischen las Dr. Boris Schneider seine „Erlebniskunst“-Geschichte aus der oben schon genannten Anthologie. Mit dem Hintergrund der Werke von Joseph Beuys nähern sich die Betrachter, ein Professor und ein Oberstudienrat, dem Gegenstand im Ausstellungssaal und fachsimpeln über die Aussagen, die der Kunstschaffende wohl damit hinterlassen hat: Vom „Behältnis der verderbten irdischen Lüste“ über „das Streben des Menschen zu höherem Sinn“ bis zum „Symbol für das sich ständig vergebliche Mühen des Menschen“ reichen die Interpretationen, denn man ist überzeugt: „Ein guter Künstler überlässt nichts dem Zufall.“ Nicht überliefert ist, was sie dachten, nachdem die Urheberin hereinkam und ihre Gedankenentgleisung auflöste.

Als der große Mann Sandro Wirth begann, seine zarten Gedichte zu lesen, wurde es ganz still im Raum. Mit „Ich will“ (mich nicht verbiegen) holte er alle ab im derzeitigen Konglomerat aus Krieg und Frieden, Hass und Liebe, Lüge und Wahrheit. „Gefangen frei“ ist ein Abbild unserer Ohnmacht, und „Du“ könnte für den geschrieben sein, der unsere Weltordnung gerade verstört, und damit doch am meisten sich selbst schadet. Mit „Hoch den Kopf“ eröffnete Wirth den Dialog mit dem eigenen Spiegelbild und endete in Lebenslust, auch wenn es Zeit braucht zu verstehen. Blind stehen wir oft still, doch gefangen nur von eigenen „Schranken“, „geborgen blind“ freilich, doch dringt in dunkelster Zeit jeder Mondschein nur zu dem Sehenden vor. Dessen Magie, genau wie jene der klangvoll tanzenden Flammen oder ans Ufer schlagenden Wellen, lässt uns eintauchen und zufrieden versinken in der Hoffnung auf ein neues, beschütztes Morgen.

Die letzte Stunde brach an, in der wir aus dem Schaffen unserer verstorbenen Autorenfreunde, die unsere Homepage in einer Ehrentafel festhält, lesen wollten. Leider besuchte kaum jemand aus der Kunstnacht diesen Teil des Abends und so sei hier nur ein bislang nicht bekannter Text erwähnt, den Helmut Glatz einst anlässlich einer Ausstellung von Barbara Koopmann verfasst hatte. Sie las die Meditation über eine Fliege selbst vor, eine Fliege in der Mitte eines Gemäldes, zwischen zwei Stellen, „die aparterweise miteinander korrespondierten – ein Spiel der Fantasie und Imagination“. Weiter führten seine Überlegungen ihn bis zur Erkenntnis, dass wohl jedes Gemälde eine Zirbeldrüse hat, eine Mitte also, von der alles ausgeht.

Dieser Mitte hatte sich auch unsere Lesung genähert, und eingedampft auf die eigenen Reihen verbrachten die Autoren noch eine Weile im Austausch miteinander über den gelungenen Abend. Dankbar waren sie, dass nach so langer Zeit endlich wieder ein Fest der Kunst möglich war und diese inzwischen als durchaus systemrelevant eingestuft wird. Und so durften wir uns freuen, dass im Zuge solcher Wahrnehmung auch die Einladung des Landratsamtes zur erstmals gemeinsamen Gestaltung einer Veranstaltung ausgesprochen wurde. Ja, die Autoren folgen gern dem „Ruf der Natur“ und tragen ihre Gedanken zur „Naturvielfalt Landsberg“ am ersten Donnerstag im Oktober bei. Schauen Sie doch herein – und hören Sie zu!

Carmen B. Kraus

Fotos: Roland Greißl