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Freie Lesung Wunder - 17.2.2023

Wunder-voll?

Kurzfassung für Eilige. Roland Greißl hatte mittels der 2000-jährigen namibischen Welwitschie seine Autorenfreunde eingeladen, das Wunder in den Fokus ihres Schreibens zu nehmen. Einen Tag nach dem Lumpigen Donnerstag fanden sich 14 Lesende im Landsberger Café FilmBühne ein. Benno von Rechenberg moderierte für den erkrankten Roland Greißl den Abend, und das Los bestimmte Gastleser Peter Gräfen zum Eröffnenden. Ihm folgten die Lesungen von Barbara Koopmann, Marianne Porsche-Rohrer, Dieter Vogel, Fred Fraas, Hannelore Warreyn, Klaus Wuchner, Rudolf Anton Fichtl und nach einer Pause Carmen Kraus, Lore Kienzl, Tina Vogel, Dr. Boris Schneider, Benno von Rechenberg und Martje Herzog.

Die meist recht kurzen Gedicht- und Prosabeiträge waren von beeindruckender Vielfalt: der wundervolle Flug der Seele etwa, ein Herzbube zur rechten Zeit und warme Socken, die Wunder wirken; eine überraschende Genesung und die Inventur nach der Apokalypse; die Annahme eines Wunders, seine romantischen Glaubensursprünge sowie Definitionen des Undefinierbaren; fast schon zwei Jahrzehnte Autorenkreis in Landsberg, daneben Zauberwörter als Zaumzeug der Gedanken; die Wunderwelten der Natur und das schwierige Schlängeln zur Entscheidung, die betörende Schönheit im Hässlichen und schließlich eine spontane spirituelle Erlösung – ausnahmslos alle Texte kreisten um das Wunder.

Diese Themenpalette hätte sich wohl kaum ein Einzelner binnen vier Wochen ausdenken können. Einmal mehr wurde klar, was diese Autoren verband: ihre Lust auf die Verschiedenheit, die Bandbreite der Sichtweisen, die ihre eigene Kreativität beflügeln kann!

Wunder-voll!

Langfassung für Genießer. Das Café FilmBühne lag so still, verträumt und unscheinbar wie immer hinter der kleinen Tür kurz vor den bunten Ankündigungen der nächsten Kinofilme im „Olympia“. Nichts deutete am Abend des „Rußigen Freitags“ darauf hin, dass gestern der Faschingstag in Landsberg war, der Lumpige Donnerstag. Frau Gilk hatte den Trubel genossen, freute sich jetzt aber auch auf den erholsamen, ruhigen Leseabend im Autorenkreis. Gern legte sie selbst kurz die Hände in den Schoß und lauschte den Gedichten und kurzen Geschichten von Autoren aus dem Umkreis.

Roland Greißl hatte dazu eingeladen und sich schon auf wundervolle Gastleser und Zuhörer gefreut. Ein Gastleser kam dann auch mit seiner Frau, weitere Zuhörer blieben fern, die Autoren waren also ganz unter sich – doch leider ohne Moderator Greißl. Der kämpfte mit Fieberschüben, Schüttelfrost und dem Bedauern, dass ihn das Bett völlig in seinem Sog gefangen hielt. Nun kam die Stunde von Benno von Rechenberg, der genau einen Monat vorher plötzlich selbst verhindert war, seinen Abschied-und-Neubeginn-Abend zu moderieren. Gut versorgt mit Hintergrundinformationen zur Überlebenskünstlerin Welwitschie, die das Einladungsplakat geziert hatte, vertrat er also den Autorenfreund als Moderator. So berichtete er von ihrem wundersamen bis zu zweitausendjährigen Gedeihen im Wechsel von Überfluss und extrem langem Wasserverzicht in der Namib-Wüste.

Dann schwenkte er auf selbst Recherchiertes um: Auch das uralte Bärtierchen kann bei widrigsten Verhältnissen in einen Zustand des Scheintodes eintreten und so extremste Minusgrade, Sauerstoffmangel bis zum Vakuum, ja sogar jahrelange Radioaktivität überleben. Man feiert gerade die Entdeckung des beinahe Unsterblichen vor 250 Jahren. Nun könnte man von einem Wunder sprechen, an das aber nur 66 Prozent der Deutschen glauben, ein Drittel ist also fest davon überzeugt, dass es keine Wunder gibt. Schade eigentlich.

Doch was ist ein Wunder? Etwa wenn ein Autor, der zum ersten Mal in diesem Kreis lesen will, das Los mit seinem eigenen Namen für den ersten Lesebeitrag des Abends zieht? Peter Gräfen, auch sonst ein „gspüriger“ Mensch, wie der Bayer sagt, ist das gelungen! Und seine spannende, einfühlsame Kurzgeschichte vom Fisch, der fliegen wollte, war ein wundervoller Einstieg in die Thematik. Dabei ging es um nichts Geringeres als das Leben selbst, das sich aus Dunkelheit befreit, und dessen leichten, lichtvollen Übergang in ein Neues, Unbekanntes.

Krass wie die Umfragewerte der Statistiker wechselte Barbara Koopmann dann zu der Überzeugung, dass ein Wunder, also das Überraschende, im Alter nur noch in der Rückschau möglich ist, weil man schon so viel erlebt hat, dass jeglicher Ausgang vorhersehbar wird. Und dann schwelgte sie in Erinnerungen an Zarah Leander, die wusste, dass einmal ein Wunder geschehn wird, an die kartelnde Großmutter, die auf den Herzbuben hoffte, und Jesu’ Wandeln übers Wasser. Von da war es nicht weit zum unerklärlichen Wunder, also dem Mirakel der Genesung nach einer schweren OP. Letztere führte sie früh zur Einsicht, dass Leben wie eine Wunderkerze sein kann, faszinierend, aber schnell vorbei. Mit Katja Ebsteins „Wunder gibt es immer wieder – doch muss man sie auch sehn“ spannte sie den Bogen zu heutigen unverhofften Rettungen nach mehreren Tagen aus dem Mittelmeer oder aus Erdbebentrümmern.

Dass der Wald Wunder wirkt, weiß Marianne Porsche-Rohrer nicht erst seit der japanischen Waldbaden-Welle. In flotten Versen preist sie ihn an für Gestresste, die wieder mal träumen wollen, hat er doch immer Zeit für alle. Doch auch der lebenserfahrene Onkel Fips aus einem ihrer Frühwerke kennt sich aus und lenkt die Aufmerksamkeit des Zuhörers dieses Mal auf „des Fußes Kühle als Ausdruck seelischer Gefühle“. Sein guter Tipp: warme Socken wirken Wunder!

Dieter Vogel, nach eigenem Bekunden ein Kind mit „penetrant sturbockigen Anwandlungen“, war früh davon überzeugt, dass das Wundern von den Wunden kommt. Fortan hat er sich seine Realität immer wieder so hingebogen, dass sie seine Theorie stützte. Davon konnten ihn weder Jesus noch die sieben, acht Weltwunder der Antike oder Neuzeit abbringen noch die Etymologen, die das Wunder als Wunsch-Abkömmling betrachten. Ist es der aus der Kindheit erhaltene Starrsinn, der ihm die Brücke baut vom Wunsch, Wunden zu heilen, zum Wunder der Genesung?

Der in knallharten Reimen philosophierende Fred Fraas stellte früh in „Das ist mein Leben“ dem Optimisten den Pessimisten gegenüber, dem Himmel die Hölle, dem Tag die Nacht, weil es eins ohne das andere nicht geben kann. Wir leben von der Spannung zwischen diesen Polen, heute mit einem „gelobt sei die Tiefe“ auf den Lippen unterwegs zur „Zukunft am Kletterseil“. Geradezu apokalyptisch war dann seine neue Vision: „Die Welt ist ihre Plage los, nur heißer Wind, erbarmungslos.“ Zwischen dieser ersten und der gleichlautenden Schlusszeile ließ er keinen Zweifel aufkommen, wer die Plage ist, die beim Betrachten wie tot hängender Mühlenflügel, rostiger Gestänge und beim Absturz des letzten Satelliten nicht im Bild ist.

Auch Hannelore Warreyn erinnerte an Katja Ebsteins Wunderlied. „Heute oder morgen können sie geschehn“, heißt es dort – und der lebenserfahrenen Märchenerzählerin ist es wichtig zu mahnen: „Halt es fest, nimm es an, bevor es dir entgleiten kann.“

Klaus Wuchner definierte ein Wunder als freudige Erwartung, leicht romantisch, in Harmonie mit der Schönheit – schöner jedenfalls als die neuerdings gebräuchlichen Kurzwörter cool oder geil. Doch muss der Wunsch einhergehen mit einer gewissen Unwahrscheinlichkeit der Erfüllung, damit das Eintreten dann als Wunder wahrgenommen wird. In dieser esoterischen Erwartungshaltung aber, so seine These, sei der Glaube begründet.

Dem setzte Rudolf Anton Fichtl eine Hymne von 700 Frauen aus Kambodscha entgegen, Doktoranden, auf dem Kopf weiße Turteltauben – und während man noch damit beschäftigt war, sich all diese Bilder vor dem geistigen Auge zu vergegenwärtigen, warf er kurz und knapp mit „kaum zu glauben, völlig ausgeschlossen aber nicht“ die beste Definition des Abends für ein Wunder in den Raum. Auch der Beitrag aus der eigenen Biografie rückte ihn wieder ein Stück näher an Karl Valentin: „Wir starteten bei Sonnenschein zur Klassenfahrt nach Hilpoltstein“ mit Regen, Regen usw., dahinter wieder Sonnenschein, als die Reise daheim endete. Den kurzen Limerick „Obstipation“ von der an der Raststätte vergessenen Gattin erinnern die Zuhörer gewiss noch lange mit einem Schmunzeln im Gesicht.

Acht kurze Beiträge, flott und fröhlich vorgetragen, hoben die Stimmung, auch wenn es angesichts der Ereignisse in der Welt explizit keine Faschingslesung war. In der Pause wirkte das Gehörte nach, man fühlte sich entrückt in Urlaubsgefilde, freute sich auf die nächste Lesung hier in einem Monat, und kurz danach das Werkstattgespräch, bei dem tierische Texte besprochen werden. Wie schön, dass wieder Normalität einkehrt, auch wenn einige noch die letzten Ausläufer der Pandemie zu spüren bekommen. Man nahm auch sie mit hinein in die Gedanken, die Gespräche an den Tischen – dann ging es weiter.

Moderator Benno von Rechenberg reichte wieder den Hut, der eigentlich eine Schirmmütze war, zum Auslosen herum, und schon konnte Carmen Kraus ihre Reime ausbreiten. Der verhinderte Moderator hatte ihr seine Absicht mitgeteilt, in der Moderation das Wunder anzusprechen, dass der Autorenkreis nun schon so lange in Landsberg besteht: Nun ließ sie den Kreis durch alle Höhen und Tiefen und Durststrecken überdauern wie die Welwitschie und kündigte sein baldiges zweites rundes Jubiläum an.

„Oh, es braucht ein Wunder?“, fragte sich Lore Kienzl. Aus unbeherrschbaren, ungezogenen Kindern werden allzu leicht Erwachsene, die nicht mehr Herr sind im eigenen Gedankenhaus. Mit welchem „Speck“ sollte man die Gedanken in die Falle locken, um ihrer habhaft zu werden? Mit einem Lied auf den Lippen vielleicht oder einem Zauberwort, das die Gedanken im Zaum hält? Aber vielleicht braucht es ja auch hier nur einfach ein Wunder.

Ausgangspunkt für Tina Vogels „Wunderwelt“ waren die Weltwunder. Mit der vollkommenen Zahl 7 versehen, waren sie doch allesamt von Menschenhand geschaffene Objekte. Unsere Welt jedoch, ist sie nicht selbst das größere Wunder? Manifestiert im Schneeglöckchen, im Wachsen, Werden und Vergehen in Kreisläufen, die ineinandergreifen und alles am Leben halten. Und dann der Mensch, der nur, weil er es kann, eingreift und oft genug zerstört, wie ein unverständiges Kind – und wohl noch sein blaues Wunder erleben wird …

Dr. Boris Schneider hat sich längst damit abgefunden, dass er nur Auszüge lesen kann, weil die Zeit für eine ganze Geschichte bei so reger Beteiligung der Autoren nie reicht. Man schätzt seine Lesungen sehr, schon wegen der unnachahmlichen Spannung, die er aufbaut. Das irische Märchen, das er auf mehreren Ebenen aufrollte, war ein kniffliges Rätsel, dessen Schleier sich erst am Schluss lüftete: Tippte man anfangs noch auf den Hans im Glück, so schob sich schließlich eindeutig das Tischleindeckdich in den Vordergrund. Und das Fazit der durch die Zeit mäandernden Geschichte: Ein Wunder, das ist eine Folge von kleinen, schwierigen, aber richtigen Entscheidungen.

Benno von Rechenberg! – endlich wurde auch der Name des Moderators zur Lesung ausgelost. Geduld muss der Zuhörer mitbringen bei seinen Geschichten. Und aufmerksam jedem Wort lauschen, weil es bestimmend sein könnte für eine Wende, auch in der Erzählung „Wie sich ein Wunder vollzieht“. Eine Kröte ist es, kein Frosch, und nicht die Prinzessin steckt sie ein, sondern ein Jüngling. Betören lässt er sich von dem lieblichen Singsang ihres zarten Stimmchens, das man bei dem hässlichen Handschmeichler nicht vermutet hätte. Sie lullt ihn ein mit ihrer Zaubermelodie, sie nimmt ihn gefangen, eh er sich versieht … am Rande der Zeit, dort, wo Wunder noch wahr werden.

Einen Zeitsprung mutet uns dann Martje Herzog zu, deren kleine autobiografische Emma das Wunder in den Augen von Kindern ausbreitet. Katholisch erzogen, fühlte sie sich stets beobachtet vom strafenden Gott, der alles sieht. Erst ein Bettsturz bei Blitzgewitter und die Gegenwart des weißen Herrgotts im blanken Fenster, der sie mit offenen Armen erwartete, änderte ihre Einstellung. Welch ein Wunder! Man würde sich das Erlebnis auch für die vielen Kinder wünschen, die früh resignierten angesichts der Aussichtslosigkeit auf echte Freiheit im Glauben.

14 lesende Autoren – wir haben uns in der letzten Organisationsbesprechung einstimmig gegen jegliches Gendern ausgesprochen, weil wir finden, dass die deutsche Sprache ausreichend klar ist und wir Frauen emanzipiert genug, um nicht auf die Verweiblichung der Welt pochen zu müssen – und ein wunderbarer Abend ging mit freundschaftlichen Gesprächen in vertrauter Runde zu Ende. Draußen schlief die Stadt ihren Faschingsrausch aus und sammelte Kräfte für den letzten großen Umzug am nächsten Tag, in Untermühlhausen. Danach kann sich allmählich der Winter ausschleichen am Lech. Die Zugvögel künden ihn schon heute an, und bis zum 16. März wird er auch unsere Gedanken beflügeln, der Lenz.

Carmen B. Kraus

Fotos von Rainer Anders, Benno von Rechenberg, Dieter Vogel und Bettina Vogel